
Mein Gegenüber ließ sich von meiner halb scherzhaft gemeinten Drohung nicht wirklich beeindrucken. Abwartend folgte ich dem Blonden mit den Augen, und betrachtete ihn dabei wie er begann die Sachen von der Theke wieder einzuräumen. Er befürchtete, dass die Beschaffenheit meiner Finger keinen Einfluss auf die von ihm ungewollten Konsequenzen hatte. Meine anfängliche Vermutung, der Engel sei einfach ein wenig berührungsscheu, verrauchte mit den nächsten Worten des Geflügelten. Denn er erzählte von einer sonderbaren Bindung, die zwischen ihm und meiner Vorgängerin infolge einer einzigen Berührung entstanden war. Meine Züge entgleisten für einen Augenblick, in dem ich die möglichen Erklärungen dafür gedanklich durchging.
„Also Hände weg.“, durchbrach Gabriel meine Überlegungen und verleitete mich zu einem Grinsen. „Ein einfaches ‚bitte‘ hätte auch gereicht Engelchen. Gute Manieren sind in diesem Haushalt wohl abhandengekommen.“, stellte ich bedauernd fest und verschränkte dabei die Arme vor der Brust. In dem Moment kehrte Cassie in die Küche zurück und verkündete, dass das Frühstück vertagt werden musste.
„Caim und Lana sind auf den Weg zur Kirche, wir sollten wirklich das Siegel holen, bevor es ein anderer tut.“Ungläubig blickte ich der verschwindenden Engelsdame hinterher, die uns munter darum bat die restlichen Anwohner über die veränderten Pläne zu informieren. „Achnö...“ Kaum dass ich meine Augen unzufrieden auf meinen eigenen Bauch gerichtet hatte, meldete sich dieser auch schon lautstark knurrend zu Wort. War das eigentlich noch zu fassen? Dem ersten Impuls folgend ergriff ich eine Banane von der Theke, ehe Gabriel dazu kam auch diese zu verstauen. „Naja gut. Eine Aufgabe ist wohl eine Aufgabe. Komm, Großer. Aufräumen kannst du auch später.“, beschloss ich kurzerhand, griff nach dem Zipfel von Gabriels Oberteil und zog ihn ein Stück zu Ausgang, bis ich mich daran erinnerte, dass Körperkontakt derzeit riskant werden konnte. Also zog ich meinen Arm wieder zurück und überlegte im Gang, wie wir den Rest wohl am schnellten erreichen konnten. Ich wusste nicht einmal, wo ihre Zimmer waren. Also hatte ich wohl keine andere Wahl, als die unkonventionelle Methode. Die Hände in die Hüften stemmend holte ich tief Luft und...
„LEUTE ES GEHT ZUR KIRCHE! WÄRE COOL WENN IHR KOMMEN KÖNNTET!“ Mit einem zufriedenen Nicken, schließlich hatte ich eine elegante Lösung für das Problem gefunden, stiefelte ich zum Ausgang, achtete jedoch darauf, dass der Blonde mir auch folgte. „Du kennst sonst den Weg zu dieser Kirche, oder?“

Offenbar hatte sie einen Narren an mir gefressen. Das oder die Engelsfrau befürchtete ich würde ohne Aufsicht abhandenkommen und die einzige Möglichkeit auf eine Rückkehr zur Normalität zunichtemachen. Denn es dauerte nicht lange, bis sie zu mir aufschloss und mich mit einem tonlosen „hier lang“ dazu bewog den Kurs zu ändern. Da bitte, wieso nicht gleich so. Zufrieden betrachtete ich ihre Rückenansicht nachdem sie mich schlussendlich überholt hatte, um auch die letzte Eigenschaft eines lebenden Wegweisers anzunehmen. Gerade noch so verdrängte ich das aufkeimende Grinsen auf meinen Lippen, als ich versuchte zu erahnen, was ihre gerade wohl durch den Kopf ging. Da ich diese Reise jedoch nicht unnötig in die Länge ziehen wollte, sparte ich mir weitere Kommentare, bis wir schließlich unser Ziel erreichten. Das Gotteshaus wirkte bei weitem nicht so beeindruckend, wie ich erwartet hätte. Noch während ich mich umblickte, spürte ich die Augen meiner Begleiterin auf mir.
"Irgendwas hat sich verändert" Nicht gerade die Worte, die man in so einer Situation hören wollte. Irritiert drehte ich meinen Kopf zu der Dunkelhaarigen, die ihre Arme um sich gelegt hatte und sichtbar fröstelte. Ob wohl alle Engel so empfindlich waren? Zunehmend ungeduldig folgte ich ihr zum Kircheneingang. Ich spürte, wie die Ader an meiner Schläfe spürbar zu pulsieren begann, während sie ihre Finger zögerlich nach dem Türgriff ausstreckte und...
Das alles ging mir eindeutig zu langsam.
„Stell dich nicht so an.“, murrte ich unzufrieden, ehe ich sie mit der Hüfte ein Stück zur Seite stieß und einen Schritt in das heilige Gebäude trat, nachdem ich die Tür bedenkenlos aufgeschoben hatte. Wider Erwarten befand sich außer uns niemand im Gebäude. Die abgestandene Luft kratzte meinen Hals, der Gestank von geweihtem Wasser bewirkte, dass ich kurz die Nase rümpfte. Nun glaubte ich auch zu verstehen, was die Engelsfrau eben gemeint hatte. Irgendwas hing in der Luft. Allmählich bekam ich ein ungutes Gefühl.
„Also? Wo ist das Siegel?“, fragte ich ohne sie dabei anzusehen. Die Antwort wurde ersichtlich, als ich den zertrümmerten Altar bemerkte. Mit schnellen Schritten überquerte ich die kurze Strecke und blickte in die Einbuchtung dahinter, in der eindeutige Leere klaffte.
„Da ist nichts.“, stellte ich monoton fest und richtete meine Augen dabei ausdruckslos auf die Engelsfrau.