
Die Annahme die Zeit stünde vorrübergehend auf meiner Seite, hatte sich am Ende als massiver Fehler herausgestellt. Nur ein paar Stunden mehr und es hätte klappen können. Ein paar Stunden Verzug am gestrigen Abend und die Ereignisse am See hätten niemals stattgefunden. Waren es nicht immer diese paar Stunden, diese paar Augenblicke, die letztlich über Leben oder Tod, Sieg oder Niederlage entscheiden konnten? Ich war mir schon immer der Tatsache bewusst gewesen, dass ich nicht unter dem glücklichsten Stern geboren worden war. Aber Hoffnung starb bekanntlich zuletzt.
Mehr durch Zufall bekam ich den Tumult mit. Zwei junge Soldaten, die aufgeregt von den Geschehnissen berichteten. Ein dritter hatte den Gefangenen wohl wiedererkannt. Die letzte Person, mit der man Liam zuletzt gesehen hatte. Fabelhaft. Noch ehe ich es wirklich zur Kenntnis nahm, hatte ich meine Schritte beschleunigt und in Richtung Zellentrakt gelenkt. Ruhig bleiben, hörte ich mich selbst gedanklich zu mir sprechen. Die Geräusche, eine Mischung aus Schreien, Stöhnen und den dumpfen Lauten von Schlägen, machte es jedoch schwer an diesem Vorsatz festzuhalten. Vor allem, als sich die grausige Szene in voller Pracht vor mir ausbreitete. Einer der Soldaten lag blutüberströmt und röchelnd am Boden zu meinen Füßen; aus seinem Hals ragte ein Kamm. Der Rest war gerade im Begriff den am Boden liegenden mit Tritten und Schlägen zu traktieren. Aneela in der verschlossenen Zelle daneben konnte nichts anderes tun, als hilflos zuzusehen.
„Aufhören.“, entwich mir leise, als ich die anfängliche Starre überwand und versuchte die lynchende Meute auseinanderzutreiben. „Sofort aufhören!!!“ Zu spät merkte ich, dass die Situation längst außer Kontrolle geraten war. Eine herumschnellende Faust schmetterte mein Gesicht zur Seite. Keuchend stolperte ich gegen die Gitterstäbe, und nutzte einen Augenblick lang die Stütze, ehe ich herumfuhr und die Soldaten wütend fixierte. In einer fließenden Bewegung hob ich das Schwert des Sterbenden vom Boden auf und hielt dessen Klinge kurzerhand an die Kehle des Mannes, der mir am nächsten war und gerade zu einem Tritt ausholte.
„Aufhören hab ich gesagt!!!“
Erst jetzt zeigten meine Worte die gewünschte Wirkung. Den Moment ausnutzend schob ich mich langsam zwischen die Soldaten und ihr Opfer, die Spitze der Klinge am Hals des Soldaten behaltend. Es fiel mir schwerer, als erwartet, die Fassung zu wahren. Der Schlag hatte meinen Gleichgewichtssinn beeinträchtigt. Und die Tatsache, dass ich die eingebildete Fratze meiner Gegenüber doppelt sah, machte die Sache auch nicht bedeutend besser. Nichtsdestotrotz holte ich tief Luft, ehe ich langsam, jedoch fest weitersprach.
„Die Gefangenen unterstehen Callum. Und er hat angeordnet-„
„Callum ist nicht da.“, unterbrach mich der Soldat unbeeindruckt und hob dabei missbilligend eine Augenbraue. „Seit wann bist du denn sein Schoßhündchen, Kleine?“
Anstatt zu antworten deutete ich mit meinem Kopf in Richtung des am Boden liegenden Soldaten. „Ihr solltet euch lieber um euren Freund kümmern. Ich regele den Rest. Klingt doch fair?“
Sekunden verstrichen, in denen mich die zwei Männer verständnislos betrachteten. Doch schließlich gab einer von ihnen nach. „Komm man, der krepiert eh in ein paar Stunden. Das ist es nicht wert.“ Es folgte ein unzufriedenes Schnaufen, gefolgt von Flüchen, als der Soldat versuchte den ausblutenden vom Boden zu hieven. Nicht, dass er noch große Überlebenschancen hatte. Aber eine Leiche in den Zellen würde wahrscheinlich zu viele Fragen aufwerfen. Reglos folgte ich den Männern mit meinem Blick. Erst, als sie aus meinem Sichtfeld verschwunden waren, erlaubte ich es mir langsam auszuatmen. Abwesend wischte ich mir das Blut von der aufgeplatzten Lippe und richtete meine Augen langsam zu dem Gefangenen, der sich mittlerweile hustend aufgesetzt hatte. Ich kniff dabei ein Auge zu, um die Übelkeit auszublenden. Das Schwert behielt ich weiterhin mit meinen Fingern umschlossen, dir Klinge nach unten gerichtet.
„Muss ich einen zweiten Kamm befürchten?“ Der Gefragte lachte röchelnd auf und schüttelte anschließend mit dem Kopf. Er sah wirklich nicht besonders gut aus. Krampfhaft suchte ich nach einem Ausweg aus dieser Situation. Mir fielen auf Anhieb zwei Optionen ein. Und keine der beiden wollte mir so recht gefallen. Doch am Ende entschied ich mich für diejenige, die auf längere Sicht vernünftiger schien. Nachdem ich Aneela darum gebeten hatte zur gegenüberliegenden Seite der Zelle zu laufen, half ich dem Verletzten auf die Beine und setzte ihn zurück in seiner Zelle ab. Nachdem ich ihm ein paar letzte Worte zugeflüstert habe, verschloss ich die Tür hinter mir gewissenhaft und hoffte darauf am heutigen Tage nicht noch einmal hierher zurückkehren zu müssen.
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Mit einem flauen Gefühl im Magen dachte ich an die Ereignisse der vergangenen Tage zurück. Es hatte wahrscheinlich alles mit dem nächtlichen Ausflug zum See angefangen. Diese eine, leichtfertig aus Sentimentalität getroffene Entscheidung hatte alles zum Bröckeln gebracht. Ich war nachlässiger geworden, was die brennende Wange nur allzu deutlich bestätigte. Seufzend lehnte ich den feuchten Lappen gegen meine geschwollene Haut, was den Schmerz nur kurzzeitig linderte. Letztlich war die Verletzung zweitrangig. Was mir in Wahrheit die Ruhe raubte war der verletzte Stolz. Oder das, was noch davon übrig war.
Blubbernd landete das Stück Stoff in der Schüssel mit frischem Wasser, die ich neben mir auf dem Boden abgelegt hatte. Ich selbst saß an dem einzigen, offenen Fenster in meiner Kammer. Von hier aus hatte ich nur eine eingeschränkte Sicht auf den Innenhof. Soldaten, die ihrem Alltag nachgingen waren kein besonders atemberaubender Anblick. Ohne der Umgebung besondere Beachtung zu schenken dachte ich ein weiteres Mal an die Gefangenen zurück. Ich war mir immer noch nicht ganz sicher, ob es eine gute Idee gewesen war sie alleine zu lassen. Andererseits steigerte jeder Augenblick, den ich in ihrer Nähe verbrachte, die Wahrscheinlichkeit den Verdacht auf mich zu ziehen, falls ihre Flucht erfolgreich sein sollte. So, wie ich bereits zuvor festgestellt hatte, führte jede Entscheidung, die ich ab jetzt fällen würde, über kurz oder lang, zu einer Niederlage.